Kapitelübersicht - Aufbrüche - Der GAU
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenTschernobyl, Die SAG/SDAG Wismut, Seveso ist überall, Risikotechnologien
LiteraturJoachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek 1983.
Fußnoten[1] Friedrich Münzinger, Atomkraft. Der Bau von Atomkraftwerken und seine Probleme. Eine Einführung für Ingenieure, Energiewirtschaftler und Volkswirte, 2. Aufl. Berlin u.a. 1957, S. 196, III.
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1959 tauchte in den Akten der Deutschen Atomkommission ein neuer englischer Begriff auf: Maximum Credible Accident. Ein halbes Jahrhundert später steht die deutsche Übersetzung im Duden: Der "Größte Anzunehmende Unfall", zumeist prägnant als GAU abgekürzt, ist längst ein Wort der Alltagssprache. Was ursprünglich als rein technische Vokabel gedacht war, wurde zur Chiffre für die Entgrenzung der Gefahr im Atomzeitalter und schließlich themenübergreifend zum Inbegriff eines richtig großen Schlamassels – wer im Kleiderschrank daneben greift, riskiert einen "Fashion-GAU". So spiegelt sich in der Begriffskarriere der GAU, wie sehr die Debatte um die atomare Technologie die bundesdeutsche Gesellschaft prägte. Zugleich zeigt die Geschichte des GAUs, dass es auch mehr als 50 Jahre nach der Inbetriebnahme des ersten zivilen Atomkraftwerks keinen Konsens gibt, wie man mit den Gefahren umgehen soll.
1. VorgeschichteZur Geschichte der industriellen Großtechnik gehört die technische Katastrophe. Seit den Aufsehen erregenden Eisenbahnunfällen des 19. Jahrhunderts hatten sich gewisse Mechanismen für den Umgang mit dem Versagen der Technik herausgebildet: staatliche Genehmigungsverfahren, Eigenkontrolle der Experten, Versicherungen. Aber taugten diese Mechanismen auch für Atomkraftwerke? Die Explosion eines Kernreaktors war eine Katastrophe, die von den potentiellen Folgen her alle vertrauten Dimensionen sprengte. Schon die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki war ein stetes Memento, dass Hoffnungen und Gefahren der Kernspaltung nahe beieinander lagen. Das Konzept des GAU war letztlich der gescheiterte Versuch, diese Kluft zu überbrücken.
2. Das friedliche Atom
In einer Rede vor der UNO-Vollversammlung versprach der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower 1953, dass die Vereinigten Staaten andere Länder bei der Entwicklung der atomaren Technologie unterstützen würden. "Atome für den Frieden" lautete das programmatische Motto: Die kontrollierte Kernspaltung sollte die westlichen Wohlstandsgesellschaften mit praktisch grenzenloser Energie versorgen. Die Vision fand ein enormes Echo, schließlich gründete sie auf Vorstellungen, die seinerzeit alle politischen Lager teilten: Glauben an die Wissenschaft, Wachstumsdenken, Hoffnung auf Frieden. Das Ergebnis war eine regelrechte Atomeuphorie. Wer sich in den fünfziger Jahren irgendwie zukunftsbewusst und fortschrittsorientiert wähnte, der glaubte an das friedliche Atom.
3. Atomeuphorie ohne Atomkraftwerke
Die Atomeuphorie stand seltsam unvermittelt neben der Tatsache, dass es zunächst kaum Erfahrungen mit der zivilen Atomenergie gab. Die ersten kommerziellen Kernkraftwerke gingen erst 1956 im britischen Calder Hall und 1957 im US-amerikanischen Shippingport in Betrieb. Ausgerechnet die Kraftwerkstechniker waren deshalb zunächst skeptisch, und der deutsche Ingenieur Friedrich Münzinger warnte 1957 in einem Buch gar vor einer "Atomkraftpsychose": Man wisse aus Erfahrung, "wieviel Lehrgeld man zahlen muß, bis für eine neue Idee eine betriebssichere und wettbewerbsfähige Konstruktion gefunden worden ist und welch großen Verdruß für Lieferer und Besteller gleichermaßen die nicht immer vermeidbaren Kinderkrankheiten einer neuartigen Maschine verursachen können."[1]
4. Maximum Credible Accident
Wie die nukleare Technologie kam auch der Schlüsselbegriff der Sicherheitsdebatte aus den USA: Maximum Credible Accident. Die Ursprünge liegen im Dunkeln. Allem Anschein nach wurde er 1959 erstmals verwendet, ohne dass ein klarer Urheber erkennbar wäre, und das zeigt bereits, dass sich damit zunächst kein klares Konzept oder gar eine durchdachte Sicherheitsphilosophie verbanden. Solange in die Kerntechnik noch keine Milliarden investiert waren, wurde über Sicherheitsprobleme noch erstaunlich unverblümt diskutiert. Im Juni 1959 erklärte Clifford Beck, damals Leiter der Hazards Evaluation Branch der US-amerikanischen Atomic Energy Commission, auf einer Tagung in Rom: "Es ist prinzipiell unmöglich, für 'glaubwürdige Störfälle' eine objektive Definition oder Spezifizierung zu geben, und daher zieht der Versuch, diese für einen vorgegebenen Reaktor zu definieren, ein Gefühl von Frustration und Vergeblichkeit nach sich, zumal man nie sicher sein kann, dass alle potentiellen Störfälle berücksichtigt sind."[2]
5. Genehmigungsfähig
In den frühen sechziger Jahren setzte sich im Westen eine handfeste technische Definition des GAU durch: der GAU als Bruch der Hauptkühlleitung, die das von der Kernspaltung erhitzte Wasser vom Reaktor zu den Turbinen leitet. Dahinter standen vor allem die Zwänge der behördlichen Genehmigungsverfahren. Man brauchte ein Szenario, dessen technische Beherrschbarkeit die gefahrenträchtigen Anlagen genehmigungsfähig machte. Das Konzept des GAU schaffte Planungssicherheit: Fortan war den Anforderungen der Genehmigungsbehörden Genüge getan, wenn die Notkühlsysteme so ausgelegt waren, dass sie den Reaktorkern auch beim Bruch wichtiger Rohrleitungen noch hinreichend zu kühlen vermochten.
6. Siegeszug des Leichtwasserreaktors
Technisch gesehen waren Notkühlsysteme prekäre Apparate: Sie standen die meiste Zeit still, mussten im Fall der Fälle jedoch perfekt funktionieren. Alternativen gab es durchaus, nur eben nicht beim Leichtwasserreaktor – jenem Reaktortyp, der sich international durchsetzte. Der Siegeszug des Leichtwasserreaktors hatte nichts mit Sicherheitskalkülen zu tun, umso mehr mit der Macht der Fakten. Seit 1955 fuhr das amerikanische Atom-U-Boot mit einem solchen Reaktor über die Weltmeere. Zudem konnte man für diesen Reaktortyp praktischerweise jene Urananreicherungsanlagen nutzen, die die Atommächte für den Bombenbau entwickelt hatten – ein geschickter Weg, die riesigen Kosten des atomaren Wettrüstens zu verstecken. So entstand rund um den Leichtwasserreaktor schon früh eine starke Lobby, während andere Wege der Atomenergienutzung nie über Prototypen hinauskamen.
7. Atomkraft bei der BASF
Die Gefahrendiskussion wurde in der Bundesrepublik erstmals konkret, als die BASF Mitte der sechziger Jahre ein Reaktorprojekt auf ihrem Firmengelände in Ludwigshafen verfolgte. Ein Großkraftwerk mitten in einem großstädtischen Ballungsraum – da wurde auch Befürwortern der Atomkraft plötzlich mulmig. Ausgerechnet Heinrich Mandel, der später in den Medien als "Atompapst" apostrophierte Protagonist der Kernenergie im RWE, schürte hinter den Kulissen die Bedenken – jedoch aus eigennützigen Gründen: Das RWE verfolgte ein eigenes Kraftwerksprojekt im nahe gelegenen Biblis, das dann im Unterschied zum BASF-Reaktor auch tatsächlich realisiert wurde.
8. Macht der Milliarden
Bis Ende der sechziger Jahre war noch offen, ob die Atomkraft jemals einen nennenswerten Beitrag zur bundesdeutschen Stromversorgung leisten würde. Erst mit den Entscheidungen für Stade und Würgassen 1967, denen zwei Jahre später der Startschuss für Biblis folgte, waren die Weichen gestellt. Zur gleichen Zeit gab es hinter den Kulissen ein Umdenken der Experten: Man erkannte, dass eine Kernschmelze bei Leichtwasserreaktoren durchaus mehr als ein hypothetisches Risiko war. Aber nun waren Milliarden investiert, und das machte es immer schwieriger, kritische Fragen zu stellen. Mit einer gewissen Logik wanderte die Risikodiskussion in die Öffentlichkeit ab. Hinter der öffentlichen Kontroverse um die Kernenergie, die in allen westlichen Ländern in den siebziger Jahren begann, standen keineswegs nur irrationale Ängste vor unsichtbaren Gefahren, sondern auch gewichtige Bedenken von Insidern, die innerhalb der nuklearen Gemeinschaft kein Gehör mehr fanden.
9. Prioritäten des Atomprotests: Atommüll, Bombe, GAU
Der GAU war nur einer von mehreren Ansatzpunkten für die Kernkraftkritik. Auch mit der ungelösten Frage der Endlagerung radioaktiver Stoffe oder möglichen militärischen Optionen ließ sich die Ablehnung begründeten. In der ersten Auflage von Holger Strohms "Friedlich in die Katastrophe", ein Buch, das im Laufe der Zeit auch volumenmäßig zur Bibel der Atomkraft-Kritiker wurde, war der GAU deshalb noch kein Thema: 1973 war der GAU als ein technisch beherrschbarer Unfall noch eine Vokabel der Kernkraft-Befürworter. Erst in den folgenden Jahren wurde der GAU zur Chiffre für die ultimative Katastrophe.
10. Der GAU wird Wirklichkeit
Unter den zahlreichen Unfällen in der Frühzeit der Atomtechnik ging vor allem der Unfall im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg in das kollektive Gedächtnis ein. Er fiel in die Zeit der Gorleben-Anhörung der niedersächsischen Landesregierung im Frühjahr 1979, in der es um das im Wendland geplante Nukleare Entsorgungszentrum ging. Die Verbindung von Protest und Katastrophe veranlasste den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht zur Revision seiner Atomplanungen: Eine Wiederaufarbeitungsanlage sei vielleicht technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar. Es war nach mehreren Jahren des Protests der erste greifbare Erfolg der bundesdeutschen Anti-Atom-Bewegung.
11. Die Normalität der Katastrophe
Der Yale-Soziologe Charles Perrow veröffentlichte 1984 ein Buch, das die Sicht auf die Gefahren großtechnischer Systeme revolutionierte: "Normale Katastrophen – Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik".[3] Perrow, der 1979 als Berater der von Präsident Carter eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Störfalls von Harrisburg fungiert hatte, vertrat mit einer Kombination von historischer Empirie und Organisationssoziologie die These, dass unerwartete, unvorhersehbare Störfälle zur Normalität hochkomplexer, eng verkoppelter Großtechnologien gehören. Demnach ist die gesamte Fixierung des Sicherheitskalküls auf einen bestimmten imaginären Maximalstörfall im Stile des GAU von Grund auf verkehrt. Es kommt vielmehr darauf an, die Sicherheitsvorkehrungen auf den Umgang mit unvorhergesehenen Vorkommnissen hin zu konditionieren – sofern man sich überhaupt auf derartige Technik-Komplexe einlassen will.
12. Es ist alles gesagt...
In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 explodierte in der Ukraine der Reaktorblock vier des Kernkraftwerks Tschernobyl – bis Fukushima das einzige Ereignis, das auf der INES-Skala der International Atomic Energy Agency in die siebte und damit höchste Unfall-Kategorie eingeordnet wurde. Für die Sicherheitsdebatte war Tschernobyl freilich eher eine Ratifikation früherer Befürchtungen als ein Impuls zum neuen Nachdenken – in Sachen nuklearer Sicherheit war, so schien es, alles gesagt und geschrieben.
13. FukushimaAtomare Katastrophen sind systembedingt, aber trotzdem nicht zu prognostizieren – diese Einsicht Charles Perrows wurde durch die Katastrophe von Fukushima einmal mehr bestätigt. Nach Tschernobyl hatte sich die Angst vor dem nächsten GAU vor allem auf osteuropäische Reaktoren wie Temelín und Kosloduj konzentriert. Dass die Katastrophe dann in einem hochmodernen japanischen Kernkraftwerk passierte, veranlasste die Bundesregierung unter Angela Merkel zu einer spektakulären Kurswende. Knapp vier Monate nach Fukushima beschloss der Bundestag mit breiter, fraktionsübergreifender Mehrheit einen stufenweisen Ausstieg aus der Atomkraft bis 2022.
14. Abschied vom GAU?
Seit den neunziger Jahren hat sich der Atomprotest in Ermangelung neuer Kraftwerksbauten zur ungelösten Entsorgungsproblematik verlagert, befeuert vor allem durch die regelmäßigen Castor-Transporte ins Zwischenlager Gorleben. Ist der GAU damit ein erkaltender Erinnerungsort? Das dürfte vor allem davon abhängen, was in den kommenden Reaktoren in den deutschen Reaktoren sowie jenen in Nachbarländern wie Frankreich, Belgien, Großbritannien, Schweden, Tschechien und der Schweiz passiert. Die Katastrophe von Fukushima hat gezeigt, dass sich das Vokabular der Atomkritik im Fall der Fälle sogleich wieder aktivieren ließ.
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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Joachim Radkau Online seit 2011
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