Seveso ist überall
Kapitelübersicht - Verschmutzte Natur - Seveso ist überall
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenGreenpeace, Die Grenzen des Wachstums
LiteraturPier A. Bertazzi, The Seveso Studies on Early and Long-Term Effects of Dioxin Exposure: A Review, in: Environmental Health Perspectives 106 (Supplement 2) (1998), S. 625-633.
Stefan Böschen, Risikogenese - Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie. Opladen 2003.
Der Spiegel
Die Zeit
G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Proceedings of the Meeting held in Milan, Italy 21-22 October 1996 promoted by Fonazione Lombardia per L'Ambiente Foro Bonaparte 12, 20121 Milano, Italy. Oxford 1999, S. 3-16.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978.
Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008.
Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 117-214.
Astrid Lütje, Thomas Wohlleben, Chemiefabrik Stoltzenberg – Zwei Katastrophen ohne Schuldige? In: Arne Andersen (Hrsg.), Umweltgeschichte. Das Beispiel Hamburg. Hamburg 1990 , S. 134-150.
Raymond G. Stokes, Von der I.G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 221-355.
Fußnoten[1] Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 209-210.
[4] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 204.
[5] Stefan Böschen, Risikogenese - Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie. Opladen 2003, S. 196.
[6] G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Oxford et al. 1999, S. 3.
[7] Friedhelm Gröteke, Als Vögel vom Himmel fielen, in: Die Zeit 32 (1976), S. 6.
[8] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 201-202.
[9] Die Anlage verfügte aufgrund der geringen Sicherheitsauflagen in der Lombardei über keine zusätzlichen Auffangvorrichtungen.
[10] G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Milan 1999, S. 7.
[11] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 207-208.
[12] Pier A. Bertazzi, The Seveso Studies on Early and Long-Term Effects of Dioxin Exposure: A Review, in: Environmental Health Perspectives 106 (Supplement 2) (1998), S. 626.
[13] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 205-212; siehe hierzu auch: G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Oxford et al. 1999, S. 4-11.
[14] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 209-215.
[15] Thomas von Randow, Der Tod aus der Hexenküche, in: Die Zeit 32 (1976), S. 7.
[16] Friedhelm Gröteke, Als Vögel vom Himmel fielen, in: Die Zeit 32 (1976), S. 6.
[17] Thomas von Randow, Der Tod aus der Hexenküche, in: Die Zeit 32 (1976), S. 7.
[18] Alexander Mayer, Leben die Hühner noch? In: Die Zeit 35 (1976), S. 18.
[19] Geplünderte, vergewaltigte, vergiftete Erde, in: Der Spiegel 35 (1976), S. 120-124.
[20] Vgl. Annelies Furtmayer-Schuh, TCDD – der Giftstoff von Seveso, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden FAZ genannt) (18.08.1976), S. 21; Die Giftwolke von Seveso ein Alarmsignal, in: FAZ (24.08.1976), S. 9; Was steht den Menschen von Seveso noch bevor? In: FAZ (11.08.1976), S. 5; Heinz-Joachim Fischer, Seveso – zwei Monate danach, in: FAZ (11.09.1976), S. 7; Sinah Kessler, Das Hin und Her zwischen Hoffnung und Enttäuschung, in: FAZ (30.12.1976), S. 7.
[21] Wie sicher sind Chemieanlagen, in: FAZ (20.12.1976), S. 5.
[22] Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978, S. 13.
[24] Vgl. Aus der Reserve, in: Der Spiegel 48 (1978), S. 89.
[25] Vgl. Rainer Käthe, Ist Seveso überall? In: Die Zeit 42 (1978), S. 67.
[26] Rainer Flöhl, Aus Katastrophen gelernt, in: FAZ (12.12.1978), S. L11.
[28] Vgl. Dioxin: Chronik des Giftmüll-Skandals, in: Die Zeit 16 (1983), S. 8.
[29] Richard Gaul, Wolfgang Gehrmann, Im Giftschrank wird aufgeräumt. Die Chemie kann auf viele gefährliche Stoffe verzichten, in: Die Zeit 18 (1983), S. 25.
[30] Der Spiegel 22 (1983); Im Heft wurde Vahrenholt, der inzwischen ins hessische Umweltministerium gewechselt war, zweimal zitiert. (S. 34, 45.)
[31] Vgl. Dioxin läßt sich in Verbrennungsöfen ein für allemal vernichten, in: FAZ (13.04.1983), S. 7; Dioxin-Gift aus Seveso in Niedersachsen vergraben? In: FAZ (22.04.1983), S. 1; Noch immer keine Spur der Giftfässer von Seveso, in: FAZ (03.05.1983), S. 3; Verwunderung über irreführende Deklaration der Seveso-Fässer, in: FAZ (12.04.1083), S. 1; Reinhard Wandtner, Dioxin wird in einem ‚Höllenofen' verbrannt, in: FAZ (24.08.1983), S. 9.
[32] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 215.
[33] Vgl. Robert von Lucius, Friedrich Schmidt, Das „Seveso-Gift". Ein alter, giftiger Bekannter, in: FAZ.net (05.01.2011); URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ das-seveso-gift-ein-alter-giftiger-bekannter -1577004.html (aufgerufen am: 17.04.2012; 13:40).
[34] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 215.
BildnachweisCover von "Seveso ist Überall" – (Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978.). |
Die Dioxin-Katastrophe von Seveso im Jahr 1976 hat sich wie wohl kein anderer Chemie-Unfall in das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung eingebrannt. Dabei lag weder der Unfallort in Deutschland, noch mangelte es an thematisierbaren Unfällen und Störfällen in der deutschen Chemiebranche. Der Unfall und mehrere assoziierte Ereignisse führten jedoch dazu, dass Seveso zu einem deutschen Synonym für die Gefahren chemischer Großanlagen wurde. Der Name Seveso dient inzwischen als Matrize zur Einordnung anderer Chemieunfälle und Dioxin wird noch immer als ‚Seveso-Gift' bezeichnet.
1. Vorgeschichte
Die Katastrophe von Seveso war keinesfalls der erste schwere Unfall der Chemieindustrie. Auch in Deutschland kam es im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder zu fatalen Unglücken. 1921 waren bei der Explosion eines Düngemittelsilos auf dem Gelände des Oppauer Stickstoffwerks der BASF bei Ludwigshafen 561 Menschen ums Leben gekommen.[1] 1928 entwich in Hamburg eine Phosgenwolke einem Kesselwagen der Firma Stoltzenberg und tötete mindestens zwölf Menschen – über 300 erkrankten.[2] Bei der Explosion eines mit Dimethyläthers gefüllten Kesselwagens auf dem Gelände der BASF starben 1948 207 Menschen, 3000 weitere wurden verletzt.[3] 1953 wurden in dem Ludwigshafner Werk der BASF nach einer Explosion 42 Personen dem Giftstoff 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) ausgesetzt – ein Arbeiter starb sofort, andere erkrankten zum Teil schwer an Chlorakne.[4] 1954 erkrankten im Hamburger Boehringerwerk mehrere Mitarbeiter ebenfalls durch Kontakt mit TCCD an Chlorakne.[5]
2. Das Ereignis
Der eigentliche Unfall von Seveso ereignete sich am 10. Juli 1976 gegen 12:30 in der Produktionsanlage der Industrie Chimiche Meda Società (ICMESA) – einer Tochter des multinationalen Konzerns Hoffmann-La Roche. Die Anlage lag zwischen den Gemeinden Seveso und Meda, beschäftigte 170 Arbeiter[6] und stellte über ein Niedrigdruckverfahren den Stoff Trichlorphenol her. Trichlorphenol ist eine Grundkomponente vieler chemischer Produkte. Es kann unter anderem zur Herstellung von Desinfektionsmitteln und Herbiziden wie dem Entlaubungsmittel Agent Orange verwendet werden.[7] Bei der Herstellung Trichlorphenols über das Niedrigdruckverfahren kann auch das hochgiftige und krebserregende 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin (TCDD) als Nebenprodukt anfallen. Außerdem kann es bei dem Verfahren zu Explosionen durch exotherme Reaktionen kommen, weshalb es in der Bundesrepublik verboten ist.[8]
3. Die deutsche Rezeption des Unfalls
Aufgrund der unklaren Informationslage vor Ort reagierte die deutsche Medienlandschaft zunächst zögerlich auf den Unfall. Als das volle Ausmaß und die Natur der Dioxin-Kontamination klar wurden, häuften sich jedoch Berichte über das industrielle Gefahrenpotential im eigenen Land. Die Zeit berichtete in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1976 über den "lautlosen Tod" aus "der Hexenküche"[15] von Seveso. Die Kontamination italienischen Bodens mit TCDD wecke "Erinnerungen an den chemischen Krieg in Vietnam"[16] und den Einsatz von Agent Orange. In einer "Zivilisation, die ihren Bestand weitgehend von der Synthese Millionen verschiedener Chemikalien abhängig gemacht hat"[17], könne aus jedem Chemiewerk eine Katastrophenquelle werden. Als immer mehr Details über das verheerende Katastrophenmanagement von Industrie und Behörden bekannt wurden, wandelte sich die ursprüngliche Unfallberichtserstattung der Zeit in eine Serie von allgemeinen Anklagen gegen die "häßlichen Multis"[18] der Chemieindustrie.
4. Ist Seveso überall?
Das Ereignis Seveso beherrschte zwar Ende 1976 die Berichterstattung der deutschen Medien, die Erinnerung an die Katastrophe jenseits der Alpen wäre aber verblasst, wenn sie in der Folge nicht wiederholt reaktiviert worden wäre. Dadurch entwickelte sich das Einzelereignis Seveso zu einem fest etablierten deutschen Referenzpunkt für Chemieunfälle und Chemieskandale.
5. Seveso ist überall!
Die Warnungen von Seveso ist überall schienen sich 1983 – fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buches – zumindest teilweise zu bewahrheiten: In diesem Jahr löste das Verschwinden von Fässern mit dioxinhaltigem Abfall aus der Unglücksanlage europaweit eine hektische Suchaktion aus. Im September 1982 hatte ein Lastwagen mit 41 Fässern Giftmüll aus Seveso die italienisch-französische Grenze passiert und war danach spurlos verschwunden. Mit der Entsorgung war der italienische Ableger des Düsseldorfer Mannesmann-Konzerns beauftragt worden. Der Verlust wurde von französischen Behörden, Hoffmann-La Roche und Mannesmann erst im März 1983 gemeldet. Eine Spur schien nach Deutschland zu führen.[28] Es schien so, als ob Seveso Deutschland fahrend schließlich doch erreicht habe.
6. Dioxin: das 'Seveso-Gift'
Doch nicht nur der Name Seveso ist in Deutschland nach der Katastrophe aus dem Jahr 1976 zu einem Synonym für die Gefahren der Chemieindustrie geworden. Auch das umgangssprachlich als Dioxin bezeichnete TCDD wurde nach der Katastrophe schnell als 'Seveso-Gift' berühmt-berüchtigt. Noch 2011 tauchten bei einem Skandal um dioxinhaltige Hühnereier Referenzen zu Seveso auf.[33]
7. Seveso als rechtliches Mahnmal
Die Erinnerung an Seveso ist nicht nur medial, sondern auch rechtlich mit der Verabschiedung der Seveso-I (82/501/EWG) und Seveso-II-Richtlinien (96/82/EG) in den Jahren 1982 und 1996 institutionalisiert worden. Die erste Richtlinie machte Betreiberangaben an lokale und nationale Behörden über Produktionsprozesse und -risiken sowie über die Auswirkungen potentieller Unfälle verpflichtend und erließ Mindeststandards für Risikoanlagen.[34] Die zweite Richtlinie aktualisierte und verschärfte die Auflagen. Unter dem Eindruck der Explosion einer Feuerwerksfabrik im niederländischen Enschede wurde die Seveso-II-Richtlinie im Jahr 2003 erneut aktualisiert und verschärft (2003/105/EG).
8. Seveso als Erinnerungsort
Das italienische Seveso-Unglück des Jahres 1976 ist mittlerweile zu einem symbolträchtigen deutschen Erinnerungsort für die Gefahren der Chemieindustrie geworden. Die Entwicklung Sevesos zum Erinnerungsort war einerseits in der Größenordnung des Unglücks begründet. Mindestens ebenso wichtig war jedoch die häufige Aktualisierung des Unfalls im deutschen Gedächtnis durch Publikationen, das Verschwinden der Fässer und den Anti-Chemie-Protest. Anstatt zu verblassen, blieb die Erinnerung an Seveso präsent und wurde zu einer Referenz für die Verortung künftiger Chemieunfälle und Skandale.
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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Claas Kirchhelle Online seit 2012
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