Kapitelübersicht - Verschmutzte Natur - Seveso ist überall

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Seveso ist überall    

Wege der Erinnerung

  1. Vorgeschichte
  2. Das Ereignis
  3. Die deutsche Rezeption des Unfalls
  4. Ist Seveso überall?
  5. Seveso ist überall!
  6. Dioxin: das 'Seveso-Gift'
  7. Seveso als rechtliches Mahnmal
  8. Seveso als Erinnerungsort

 

Verwandte Themen

Greenpeace, Die Grenzen des Wachstums

 

Literatur

Pier A. Bertazzi, The Seveso Studies on Early and Long-Term Effects of Dioxin Exposure: A Review, in: Environmental Health Perspectives 106 (Supplement 2) (1998), S. 625-633.

 

Stefan Böschen, Risikogenese - Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie. Opladen 2003.

 

Der Spiegel

 

Die Zeit

 

G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Proceedings of the Meeting held in Milan, Italy 21-22 October 1996 promoted by Fonazione Lombardia per L'Ambiente Foro Bonaparte 12, 20121 Milano, Italy. Oxford 1999, S. 3-16.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978.

 

Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008.

 

Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 117-214.

 

Astrid Lütje, Thomas Wohlleben, Chemiefabrik Stoltzenberg – Zwei Katastrophen ohne Schuldige? In: Arne Andersen (Hrsg.), Umweltgeschichte. Das Beispiel Hamburg. Hamburg 1990 , S. 134-150.

 

Raymond G. Stokes, Von der I.G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 221-355.

 

Fußnoten

[1] Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 209-210.


[2] Astrid Lütje, Thomas Wohlleben, Chemiefabrik Stoltzenberg – Zwei Katastrophen ohne Schuldige? In: Arne Andersen (Hrsg.), Umweltgeschichte. Das Beispiel Hamburg. Hamburg 1990 , S. 135.

 
[3] Raymond G. Stokes, Von der I.G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 348.

 

[4] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 204.

 

[5] Stefan Böschen, Risikogenese - Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie. Opladen 2003, S. 196.

 

[6] G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Oxford et al. 1999, S. 3.

 

[7] Friedhelm Gröteke, Als Vögel vom Himmel fielen, in: Die Zeit 32 (1976), S. 6.

 

[8] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 201-202.

 

[9] Die Anlage verfügte aufgrund der geringen Sicherheitsauflagen in der Lombardei über keine zusätzlichen Auffangvorrichtungen.

 

[10] G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Milan 1999, S. 7.

 

[11] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 207-208.

 

[12] Pier A. Bertazzi, The Seveso Studies on Early and Long-Term Effects of Dioxin Exposure: A Review, in: Environmental Health Perspectives 106 (Supplement 2) (1998), S. 626.

 

[13] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 205-212; siehe hierzu auch: G. M. Fara, The ICMESA accident. First intervention for the protection of man and environment, in: A. Ballarin-Denti et al. (Hrsg.), Chemistry, Man and Environment. The Seveso accident 20 years on: monitoring, epidemiology and remediation. Oxford et al. 1999, S. 4-11.

 

[14] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 209-215.

 

[15] Thomas von Randow, Der Tod aus der Hexenküche, in: Die Zeit 32 (1976), S. 7.

 

[16] Friedhelm Gröteke, Als Vögel vom Himmel fielen, in: Die Zeit 32 (1976), S. 6.

 

[17] Thomas von Randow, Der Tod aus der Hexenküche, in: Die Zeit 32 (1976), S. 7.

 

[18] Alexander Mayer, Leben die Hühner noch? In: Die Zeit 35 (1976), S. 18.

 

[19] Geplünderte, vergewaltigte, vergiftete Erde, in: Der Spiegel 35 (1976), S. 120-124.

 

[20] Vgl. Annelies Furtmayer-Schuh, TCDD – der Giftstoff von Seveso, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden FAZ genannt) (18.08.1976), S. 21; Die Giftwolke von Seveso ein Alarmsignal, in: FAZ (24.08.1976), S. 9; Was steht den Menschen von Seveso noch bevor? In: FAZ (11.08.1976), S. 5; Heinz-Joachim Fischer, Seveso – zwei Monate danach, in: FAZ (11.09.1976), S. 7; Sinah Kessler, Das Hin und Her zwischen Hoffnung und Enttäuschung, in: FAZ (30.12.1976), S. 7.

 

[21] Wie sicher sind Chemieanlagen, in: FAZ (20.12.1976), S. 5.

 

[22] Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978, S. 13.

 

[23] Vgl. Ebd., S. 14-17.

 

[24] Vgl. Aus der Reserve, in: Der Spiegel 48 (1978), S. 89.

 

[25] Vgl. Rainer Käthe, Ist Seveso überall? In: Die Zeit 42 (1978), S. 67.

 

[26] Rainer Flöhl, Aus Katastrophen gelernt, in: FAZ (12.12.1978), S. L11.

 

[27] Ibid.

 

[28] Vgl. Dioxin: Chronik des Giftmüll-Skandals, in: Die Zeit 16 (1983), S. 8.

 

[29] Richard Gaul, Wolfgang Gehrmann, Im Giftschrank wird aufgeräumt. Die Chemie kann auf viele gefährliche Stoffe verzichten, in: Die Zeit 18 (1983), S. 25.

 

[30] Der Spiegel 22 (1983); Im Heft wurde Vahrenholt, der inzwischen ins hessische Umweltministerium gewechselt war, zweimal zitiert. (S. 34, 45.)

 

[31] Vgl. Dioxin läßt sich in Verbrennungsöfen ein für allemal vernichten, in: FAZ (13.04.1983), S. 7; Dioxin-Gift aus Seveso in Niedersachsen vergraben? In: FAZ (22.04.1983), S. 1; Noch immer keine Spur der Giftfässer von Seveso, in: FAZ (03.05.1983), S. 3; Verwunderung über irreführende Deklaration der Seveso-Fässer, in: FAZ (12.04.1083), S. 1; Reinhard Wandtner, Dioxin wird in einem ‚Höllenofen' verbrannt, in: FAZ (24.08.1983), S. 9.

 

[32] Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 215.

 

[33] Vgl. Robert von Lucius, Friedrich Schmidt, Das „Seveso-Gift". Ein alter, giftiger Bekannter, in: FAZ.net (05.01.2011); URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ das-seveso-gift-ein-alter-giftiger-bekannter -1577004.html (aufgerufen am: 17.04.2012; 13:40).

 

[34] Vgl. Matthias Hoffmann, Lernen aus Katastrophen. Berlin 2008, S. 215.

 

Bildnachweis

Cover von "Seveso ist Überall" – (Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978.).

Die Dioxin-Katastrophe von Seveso im Jahr 1976 hat sich wie wohl kein anderer Chemie-Unfall in das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung eingebrannt. Dabei lag weder der Unfallort in Deutschland, noch mangelte es an thematisierbaren Unfällen und Störfällen in der deutschen Chemiebranche. Der Unfall und mehrere assoziierte Ereignisse führten jedoch dazu, dass Seveso zu einem deutschen Synonym für die Gefahren chemischer Großanlagen wurde. Der Name Seveso dient inzwischen als Matrize zur Einordnung anderer Chemieunfälle und Dioxin wird noch immer als ‚Seveso-Gift' bezeichnet.

 

 

1. Vorgeschichte

Die Katastrophe von Seveso war keinesfalls der erste schwere Unfall der Chemieindustrie. Auch in Deutschland kam es im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder zu fatalen Unglücken. 1921 waren bei der Explosion eines Düngemittelsilos auf dem Gelände des Oppauer Stickstoffwerks der BASF bei Ludwigshafen 561 Menschen ums Leben gekommen.[1] 1928 entwich in Hamburg eine Phosgenwolke einem Kesselwagen der Firma Stoltzenberg und tötete mindestens zwölf Menschen – über 300 erkrankten.[2] Bei der Explosion eines mit Dimethyläthers gefüllten Kesselwagens auf dem Gelände der BASF starben 1948 207 Menschen, 3000 weitere wurden verletzt.[3] 1953 wurden in dem Ludwigshafner Werk der BASF nach einer Explosion 42 Personen dem Giftstoff 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) ausgesetzt – ein Arbeiter starb sofort, andere erkrankten zum Teil schwer an Chlorakne.[4] 1954 erkrankten im Hamburger Boehringerwerk mehrere Mitarbeiter ebenfalls durch Kontakt mit TCCD an Chlorakne.[5]

 

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2. Das Ereignis

Der eigentliche Unfall von Seveso ereignete sich am 10. Juli 1976 gegen 12:30 in der Produktionsanlage der Industrie Chimiche Meda Società (ICMESA) – einer Tochter des multinationalen Konzerns Hoffmann-La Roche. Die Anlage lag zwischen den Gemeinden Seveso und Meda, beschäftigte 170 Arbeiter[6] und stellte über ein Niedrigdruckverfahren den Stoff Trichlorphenol her. Trichlorphenol ist eine Grundkomponente vieler chemischer Produkte. Es kann unter anderem zur Herstellung von Desinfektionsmitteln und Herbiziden wie dem Entlaubungsmittel Agent Orange verwendet werden.[7] Bei der Herstellung Trichlorphenols über das Niedrigdruckverfahren kann auch das hochgiftige und krebserregende 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin (TCDD) als Nebenprodukt anfallen. Außerdem kann es bei dem Verfahren zu Explosionen durch exotherme Reaktionen kommen, weshalb es in der Bundesrepublik verboten ist.[8]
Als die Anlage von Seveso für das Wochenende abgekühlt und heruntergefahren wurde, ereignete sich eine solche Explosion, die das einzige Überdruckssicherungssystem der Anlage – eine Berstscheibe – zerstörte und eine dioxinhaltige Giftwolke freisetzte.[9] Ungefähr 1.800 Hektar Land wurden verseucht.[10]
Zu einer Katastrophe wurde die Explosion bei der ICMESA erst im Verlauf der nächsten Wochen. Zwar informierte die ICMESA mehrere Stunden nach dem Unfall die Behörden, dass es einen Zwischenfall gegeben hatte. Was genau die Wolke enthielt und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen waren, blieb zunächst völlig unklar. Das volle Ausmaß der Freisetzung wurde erst später erkannt und zunächst nicht öffentlich kommuniziert. So zog die Giftwolke über die benachbarten Orte Seveso und Meda und löste im Verlauf der nächsten Woche ein Massensterben örtlicher Kleintiere und das Absterben der lokalen Vegetation aus. Derweil wurde in der Anlage der ICMESA weiter produziert. Erst sechs Tage nach dem Unfall beschloss der Betriebsrat der ICMESA unter Streikdrohungen die Einstellung der Produktion. Die Arbeiter der Anlage waren zuvor vom Führungspersonal zur Verbrennung ihrer Kleidung aufgefordert worden. Zu dieser Zeit war noch immer nicht allgemein bekannt, welche Stoffe die Giftwolke enthielt. Dass es sich bei dem freigesetzten Stoff um Dioxin handelte, bestätigte Hoffmann-La Roche erst neun Tage nach dem Unfall.[11] Bei mehreren Personen zeigten sich schwere Hautschäden durch sogenannte Chlorakne. Bis zum April 1977 wurden 187 Fälle von Chlorakne (darunter 164 Kinder) diagnostiziert.[12]
Die italienischen Behörden reagierten auf den Unfall in einer oft chaotisch wirkenden Weise, was zum Teil mit ihrer Abhängigkeit von den spärlichen Informationen aus der Basler Konzernzentrale von Hoffmann-La Roche zusammenhing. Nach einer ersten Evakuierungsorder erweiterten sich die Sperrgebiete mehrfach, weil hohe Dioxinrückstände auf Feldern und Gebäuden gemessen wurden, die zuvor als unkontaminiert oder gereinigt galten. Wütende und verunsicherte Anwohner wurden in der Gegend um Seveso und Meda aus ihren Häusern zwangsevakuiert und Schwangerschaftsabtreibungen trotz heftiger Kirchenproteste in einer einmaligen Aktion für betroffene Frauen legalisiert.[13]
Die Evakuierten wehrten sich mit Blockaden und Einbrüchen in die Evakuierungszone gegen die scheinbare Willkür der staatlichen Maßnahmen und gegen den Imageschaden ihrer Heimat. Auch Mord- und Bombenanschläge wurden auf Vertreter der ICMESA, Mitarbeiter von Hoffmann-La Roche und verantwortliche Beamte verübt. Die Dekontaminierung des betroffenen Gebiets sollte bis 1980 dauern. In einigen Zonen musste die obere Erdschicht umgepflügt oder sogar ganz abgetragen werden. In der Umgebung von Seveso entstanden unterirdische Bunker für etwa 280.000 Kubikmeter dioxin-verseuchten Materials.[14]

 

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3. Die deutsche Rezeption des Unfalls

Aufgrund der unklaren Informationslage vor Ort reagierte die deutsche Medienlandschaft zunächst zögerlich auf den Unfall. Als das volle Ausmaß und die Natur der Dioxin-Kontamination klar wurden, häuften sich jedoch Berichte über das industrielle Gefahrenpotential im eigenen Land. Die Zeit berichtete in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1976 über den "lautlosen Tod" aus "der Hexenküche"[15] von Seveso. Die Kontamination italienischen Bodens mit TCDD wecke "Erinnerungen an den chemischen Krieg in Vietnam"[16] und den Einsatz von Agent Orange. In einer "Zivilisation, die ihren Bestand weitgehend von der Synthese Millionen verschiedener Chemikalien abhängig gemacht hat"[17], könne aus jedem Chemiewerk eine Katastrophenquelle werden. Als immer mehr Details über das verheerende Katastrophenmanagement von Industrie und Behörden bekannt wurden, wandelte sich die ursprüngliche Unfallberichtserstattung der Zeit in eine Serie von allgemeinen Anklagen gegen die "häßlichen Multis"[18]  der Chemieindustrie.
Der Spiegel titelte "Geplünderte, vergewaltigte, vergiftete Erde"[19] und warnte unter Verweis auf Rachel Carsons Stummen Frühling und die vom Club of Rome publizierten Grenzen des Wachstums vor einem deutschen Seveso. Konkret griff das Blatt die Herstellung Trichlorphenols in der Hamburger Fabrik des Boehringer Konzerns an.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisierte in diesem Zusammenhang sowohl die Fahrlässigkeit der Chemieindustrie als auch die Uninformiertheit deutscher Behörden und Anwohner über die Gefahren heimischer Chemieanlagen:[20] "800 Beinahe-Katastrophen, die im industriellen Bereich jährlich in der Bundesrepublik 'eintreten', zeigen, daß [...] Seveso [...] überall möglich [ist]."[21]

 

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4. Ist Seveso überall?

Das Ereignis Seveso beherrschte zwar Ende 1976 die Berichterstattung der deutschen Medien, die Erinnerung an die Katastrophe jenseits der Alpen wäre aber verblasst, wenn sie in der Folge nicht wiederholt reaktiviert worden wäre. Dadurch entwickelte sich das Einzelereignis Seveso zu einem fest etablierten deutschen Referenzpunkt für Chemieunfälle und Chemieskandale.
Bereits zwei Jahre nach dem Unfall erhob der Bestseller Seveso ist überall – Die tödlichen Risiken der Chemie von Egmont R. Koch (Journalist) und Fritz Vahrenholt (Mitarbeiter am Umweltbundesamt) das Ereignis Seveso zu einem symbolischen Mahnmal für die öffentliche Gefährdung durch multinationale Chemiekonzerne. Das Buch beschäftigte sich explizit mit Unfällen, mangelnden Zulassungskontrollen, Risiken und Entsorgungsproblemen der europäischen und deutschen Chemieindustrie. Das Unglück von Seveso wurde erneut als Ereignis mit Implikationen weit jenseits der lombardischen Grenzen behandelt – schon der Buchtitel drückt den zentralen Stellenwert der Katastrophe aus.[22] Die Autoren setzten sich für eine Neuregulierung der Chemieindustrie jenseits von Forderungen nach Nullwachstum oder nach industrieller Selbstverantwortung ein.[23]
Die mediale Rezeption des Buches war aufgrund der inzwischen verblassten unmittelbaren Katastropheneindrücke geteilt. So berief sich der Spiegel in einem gegen die Lobby der Chemieindustrie gerichteten Bericht explizit auf Seveso ist überall.[24] Die Zeit kritisierte zwar die Auswahl einiger Beispiele sowie den reißerischen Ton des Buchs, lobte aber ausdrücklich die von den Autoren angestoßene Diskussion über die Risiken der Chemieindustrie.[25] Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung war hingegen klar, dass die Autoren mit "vielen Zerrbilder und Verfälschungen"[26] über die Verunsicherung der Öffentlichkeit Profit schlagen wollten: "Irrationale Meinungen herrschen auch heute vor, wenn in der Öffentlichkeit über die Risiken der Chemie diskutiert wird. Dies bestätigt unter anderem der Erfolg des Buchs 'Seveso ist überall'."[27]

 

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5. Seveso ist überall!

Die Warnungen von Seveso ist überall schienen sich 1983 – fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buches – zumindest teilweise zu bewahrheiten: In diesem Jahr löste das Verschwinden von Fässern mit dioxinhaltigem Abfall aus der Unglücksanlage europaweit eine hektische Suchaktion aus. Im September 1982 hatte ein Lastwagen mit 41 Fässern Giftmüll aus Seveso die italienisch-französische Grenze passiert und war danach spurlos verschwunden. Mit der Entsorgung war der italienische Ableger des Düsseldorfer Mannesmann-Konzerns beauftragt worden. Der Verlust wurde von französischen Behörden, Hoffmann-La Roche und Mannesmann erst im März 1983 gemeldet. Eine Spur schien nach Deutschland zu führen.[28] Es schien so, als ob Seveso Deutschland fahrend schließlich doch erreicht habe.
Die deutschen Medien reagierten auf das Verschwinden der brisanten Ladung entsetzt. Obwohl es sich nicht um einen Chemie-, sondern einen Entsorgungsskandal handelte, forderte die Zeit ein Ende der Produktion gefährlicher Giftstoffe zu denen es Alternativen gebe – das Verschwinden der Fässer müsse als "heilsame[r] Schock"[29] betrachtet werden. Der Spiegel widmete dem Thema "Überall ist Seveso" eine Titelgeschichte[30] und prangerte verschwiegene chemische Gefahren auf west- und ostdeutschen Deponien an. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete besorgt über die entblößten Probleme und mangelnde Überwachung der Entsorgungspraktiken großer Chemiekonzerne.[31]
Die völlig ungesicherten Fässer, die insgesamt 6,5 Tonnen stark belastete Erde enthielten, tauchten schließlich im Mai 1983 in einem verlassenen französischen Schlachthof auf. Ein von Mannesmann engagiertes kleines französisches Speditionsunternehmen hatte sie dort einfach abgestellt. Der Inhalt der Fässer wurde bis Mai 1985 unter notarieller Beaufsichtigung in einem Baseler Spezialofen verbrannt.[32]

 

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6. Dioxin: das 'Seveso-Gift'

Doch nicht nur der Name Seveso ist in Deutschland nach der Katastrophe aus dem Jahr 1976 zu einem Synonym für die Gefahren der Chemieindustrie geworden. Auch das umgangssprachlich als Dioxin bezeichnete TCDD wurde nach der Katastrophe schnell als 'Seveso-Gift' berühmt-berüchtigt. Noch 2011 tauchten bei einem Skandal um dioxinhaltige Hühnereier Referenzen zu Seveso auf.[33]
Die skandalträchtige Konnotation Dioxins wird bereits 1981 bei der Schornsteinbesetzung des Hamburger Boehringer Werks durch Greenpeace-Aktivisten deutlich. Der neugegründete deutsche Greenpeace-Ableger nutzte die seit längerem bekannten und umstrittenen Dioxinemissionen der Fabrik, um sich über einen ersten spektakulären Umweltprotest öffentlich und medial gezielt zu profilieren.

 

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7. Seveso als rechtliches Mahnmal

Die Erinnerung an Seveso ist nicht nur medial, sondern auch rechtlich mit der Verabschiedung der Seveso-I (82/501/EWG) und Seveso-II-Richtlinien (96/82/EG) in den Jahren 1982 und 1996 institutionalisiert worden. Die erste Richtlinie machte Betreiberangaben an lokale und nationale Behörden über Produktionsprozesse und -risiken sowie über die Auswirkungen potentieller Unfälle verpflichtend und erließ Mindeststandards für Risikoanlagen.[34] Die zweite Richtlinie aktualisierte und verschärfte die Auflagen. Unter dem Eindruck der Explosion einer Feuerwerksfabrik im niederländischen Enschede wurde die Seveso-II-Richtlinie im Jahr 2003 erneut aktualisiert und verschärft (2003/105/EG).

 

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8. Seveso als Erinnerungsort

Das italienische Seveso-Unglück des Jahres 1976 ist mittlerweile zu einem symbolträchtigen deutschen Erinnerungsort für die Gefahren der Chemieindustrie geworden. Die Entwicklung Sevesos zum Erinnerungsort war einerseits in der Größenordnung des Unglücks begründet. Mindestens ebenso wichtig war jedoch die häufige Aktualisierung des Unfalls im deutschen Gedächtnis durch Publikationen, das Verschwinden der Fässer und den Anti-Chemie-Protest. Anstatt zu verblassen, blieb die Erinnerung an Seveso präsent und wurde zu einer Referenz für die Verortung künftiger Chemieunfälle und Skandale.

 

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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Claas Kirchhelle

 

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Empfohlene Zitierweise: Claas Kirchhelle, Erinnerungsort "Seveso ist überall", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/verschmutzte-natur/50-seveso-ist-ueberall.