Kapitelübersicht - Lebensweisen - Vegetarismus

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Vegetarismus    

Wege der Erinnerung

  1. Antike Traditionen
  2. Anfänge des modernen Vegetarismus
  3. Angelsächsische Wurzeln
  4. Anfänge der Lebensreformbewegung in Deutschland
  5. Vereinstätigkeit
  6. Erscheinungsform des deutschen Vegetarismus um die Jahrhundertwende
  7. Gleichschaltung
  8. Vegetarismus im Dritten Reich
  9. Entwicklung in der Bundesrepublik
  10. Ökonomische und ökologische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

 

Verwandte Themen

Regenwald, Reichsnaturschutzgesetz, Sebastian Kneipp, Tierquälerei, Vollkornbrot, Vom Reformhaus zum Bioladen

 

Literatur

Claus Leitzmann, Vegetarismus. Grundlagen, Vorteile, Risiken. München 2012.

 

Colin Spencer, The Heretic's Feast. A History of Vegetarianism. London 1993.

 

Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt 1996.

 

Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006.

 

Hans-Jürgen Teuteberg, Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 33-65.

 

Judith Baumgartner, Vegetarismus, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880-1933. Wuppertal 1998, S. 127-139.

 

Manuela Linnemann, Claudia Schorcht, Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Erlangen 2001.

 

Tristram Stuart, The Bloodless Revolution. A Cultural History of Vegetarianism from 1600 to Modern Times. New York 2007.

 

Vegetarierbund Deutschland e.V., Anzahl der Vegetarier in Deutschland. URL: https://www.vebu.de /lifestyle/anzahl-der- vegetarierinnen (zuletzt aufgerufen am 11.05.2014).

 

Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974.

 

Fußnoten

[1] Vegetarierbund Deutschland e.V., Anzahl der Vegetarier in Deutschland. URL: https://www.vebu.de/lifestyle/anzahl-der-vegetarierinnen (zuletzt aufgerufen am 11.05.2014).


[2] Claus Leitzmann, Vegetarismus. Grundlagen, Vorteile, Risiken. München 2012, S. 10.

 
[3] Vgl. Manuela Linnemann, Claudia Schorcht, Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Erlangen 2001, S. 19-20.

 

[4] Vgl. Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974, S. 51-52.

 

[5] Judith Baumgartner, Vegetarismus, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880-1933. Wuppertal 1998, S. 129.

 

[6] Vgl. ebd., S. 131-133; und Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006, S. 39-40.

 

[7] Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung, S. 54.

 

[8] Vgl. Colin Spencer, The Heretic's Feast. A History of Vegetarianism. London 1993, S. 304-309; und Tristram Stuart, The Bloodless Revolution. A Cultural History of Vegetarianism from 1600 to Modern Times. New York 2007, S. 435-444.

 

[9] Fritzen, Gesünder leben, S. 49.

 

[10] Leitzmann, Vegetarismus, S. 28.

 

Bildnachweis

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Der Begriff Vegetarismus ist heutzutage allgegenwärtig. Ob in Zeitungsartikeln, in Kochbüchern oder auf Speisekarten in Restaurants – eine fleischlose Ernährung ist längst nichts Ungewöhnliches mehr. So geben mittlerweile 8-9 Prozent der Deutschen an, komplett auf Fleischprodukte zu verzichten.[1] Doch was wie eine relativ moderne Erscheinung wirkt, ist tatsächlich ein Phänomen mit langer Tradition. So liegt der Beginn dieser Bewegung schon im 18. Jahrhundert, die Entstehung kann sogar bis in die Antike zurückverfolgt werden. Im Folgenden soll diese Entwicklungsgeschichte nachgezeichnet werden, um so die vielschichtige Historie hinter einem scheinbar modernen Begriff aufzudecken. Bei dieser Betrachtung wird auch deutlich, dass der Vegetarismus einen festen Platz in der deutschen Geschichte hat und somit als Erinnerungsort zu sehen ist.
Die Gründe zur Entscheidung für eine vegetarische Lebensführung sind vielschichtig. Sie kann aus ethischen, medizinischen, religiösen, sozialen, finanziellen oder ökologischen Überlegungen heraus getroffen werden. Doch eine Abwägung der Argumente für oder gegen Vegetarismus soll hier keine Rolle spielen. Vielmehr steht die Geschichte des Konzepts Vegetarismus und die Erscheinungsformen in Deutschland im Mittelpunkt.

 

 

1. Antike Traditionen

Der Beginn einer vegetarischen Lehre kann bis ins 6. Jahrhudert v. Chr. zurückverfolgt werden. Der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras (um 560-480 v. Chr.) gilt als der "Begründer des klassischen Vegetarismus"[2], weshalb eine fleischlose Ernährung bis ins 19. Jahrhundert auch als Pythagoräismus bezeichnet wurde. Pythagoras verurteilte Fleischgenuss aus ethischen Überlegungen und dem Glauben an Seelenwanderung heraus und lehnte deswegen besonders das in der Antike weit verbreitete Ritual der Tieropferung ab. Durch eine reine Seele sollte ein glückliches Leben nach dem Tod erreicht werden. Der Seelenwanderungsglaube lässt sich auch in diversen fernöstlichen Religionen wie z.B. dem Hinduismus und Buddhismus finden. Dass Pythagoras vom indischen Glauben an die Seelenwanderung beeinflusst wurde ist in der heutigen Forschung umstritten, chronologisch gesehen aber nicht auszuschließen.[3] Eine weite Verbreitung einer fleischlosen Lehre fand in der Antike jedoch nicht statt, obwohl es vereinzelt immer wieder Theoretiker gab, die sich gegen das Essen von Fleisch aussprachen. Im 1. Jahrhundert n. Chr. entstand bei Plutarch (ca. 45 – 120 n. Chr.) erstmals die Idee der Tierliebe. Tieren wurde ein eigenes Existenzrecht und die Fähigkeit zu leiden zugesprochen, wodurch das Töten und das unnötige Zufügen von Schmerz durch den Menschen zum Unrecht wurden. Dieser Gedanke wurde später bei Jeremy Bentham und allgemein für die Tierethik bedeutend. Außerdem verknüpfte Plutarch das Essen von Fleisch mit dem Entstehen von Krankheiten.
In die christliche Religion wurden nur wenige Teile der vegetarischen Idee übernommen, einzig die Elemente der Mäßigung und Enthaltsamkeit erfuhren Beachtung. Das 5. Gebot "Du sollst nicht töten" wird allerdings nur von kleinen Splittergruppen wie den Siebenten-Tags-Adventisten und Quäkern auch auf Tiere bezogen.

 

 

 

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2. Anfänge des modernen Vegetarismus

Während des Mittelalters erfuhr der Gedanke des Vegetarismus keine neuen Impulse. Erst mit dem Aufkommen des Humanismus im Zeitalter der Renaissance kam eine Rückbesinnung auf die menschliche Umwelt und Natur auf. Denker wie Leonardo da Vinci, John Milton, Voltaire u.a. propagierten einen ethischen Vegetarismus. Doch erst im 18. Jahrhundert wurden diese Ansätze umfassend bedeutsam. Besonders Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) Schriften (v.a. sein Erziehungsroman 'Emile') und die ihm zugeschriebene Maxime "Zurück zur Natur" hatten einen nachhaltigen Einfluss. Rousseau vertrat die These, dass das Essen von Fleisch unnatürlich sei. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden besonders in England und Frankreich die zentralen Argumente des modernen Vegetarismus entwickelt:[4]

  • Tiermord führt zum Menschenmord
  • Diät beeinflusst die Seele
  • der menschliche Körper ist auf pflanzliche Kost ausgerichtet

Im Gegensatz zum ethisch geprägten antiken Vegetarismus wurde im modernen Vegetarismus seit dem 18. Jahrhundert überwiegend hygienisch argumentiert. Durch den wachsenden Einfluss von Naturalismus, Rationalismus und Säkularisierung seit der Aufklärung wurden Überlegungen zur Natur des Menschen immer stärker.

 

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3. Angelsächsische Wurzeln

Die moderne Vegetarismusbewegung entstand zunächst in Großbritannien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie reagierte besonders auf die Auswirkungen der Industriellen Revolution und dadurch entstandene Unsicherheiten. Auch der Begriff 'vegetarianism' kam erst um 1840 in England auf. 1842 erschien er das erste Mal in einer medizinischen Zeitschrift. Er leitet sich vom lateinischen Wortstamm 'vegetus' ab, was gesund, frisch, lebendig bedeutet. In Deutschland wurde die verkürzte Form 'Vegetarismus' erst seit den 1880er Jahren verwendet (davor wurde auch der Begriff 'Vegetarianismus' gebraucht). Zunächst war der englische Vegetarismus noch von religiösen, ethischen und ökonomischen Aspekten geprägt, wurde aber zunehmend gesundheitlich ausgelegt. 1847 wurde mit der 'Vegetarian Society' der erste weltliche Vegetarismusverein in England gegründet, nachdem in den Jahrzehnten zuvor schon einige religiöse Organisationen geschaffen worden waren. Auch die Frage nach der Berechtigung der Vivisektion – dem Experimentieren am lebenden Tier – wurde seit den 1870er Jahren ein wichtiges Thema des Vegetarismus. Neben der Kritik an Tierversuchen spielte hier auch eine generelle Skepsis gegenüber Schulmedizin und Ärzten eine Rolle, da Vegetarier oft der Meinung waren, körperliche und geistige Gesundheit könne nur durch eine gesunde, fleischlose Ernährung erreicht werden und mache daher medizinische Erkenntnisse aus den Tierversuchen überflüssig. Dennoch war der Tierschutz kein Hauptanliegen für viele Vegetarier.

 

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4. Anfänge der Lebensreformbewegung in Deutschland

Der deutsche Vegetarismus formierte sich im Umfeld der Lebensreformbewegung. Diese breite, im 19. Jahrhundert entstehende Strömung ist als Überbegriff für einzelne Bewegungen wie z.B. Naturheilkunde, Ernährungsreform, Kleidungsreform, Jugendbewegung, Tierschutzbewegung, Antialkoholbewegung u.v.m. zu verstehen. Die Lebensreformbewegung kann als Antwort auf die Veränderungen der Lebensumwelt durch Phänomene wie Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert gewertet werden und war generell ganzheitlich ausgerichtet. Das Ziel der Bewegung war zwar letztlich die Umgestaltung der gesamten Gesellschaft, sie setzte jedoch bei der Heilung des Individuums an und war daher mehr Selbstreform als Gesellschaftsreform. Gemeinsam war allen Initiativen – nach Rousseau'schem Vorbild – das Anstreben einer naturgemäßen Lebensweise. Ferner zeichnete sich die Bewegung durch eine aktive Vereinstätigkeit und diverse Veröffentlichungen in Vereinszeitschriften aus. Seit den 1880er Jahren fand eine "allmähliche Einbindung des Vegetarismus in die Lebensreformbewegung" statt.[5] Der Vegetarismus bildete in diesem Zusammenhang also einen Teilbereich der Lebensreformbewegung. Zwar lassen sich einige personelle und ideologische Überschneidungen mit der Naturheilkunde und der Ernährungsreform finden, es handelte sich aber doch um eine eigenständige Bewegung, wenngleich die Vegetarier zahlenmäßig einen eher kleinen Bereich der Lebensreformer ausmachten. Die generelle Herausbildung lebensreformerischer und vegetarischer Überzeugungen in Deutschland wurde rasch in festen Organisationsstrukturen festgehalten.

 

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5. Vereinstätigkeit

Schon bald wurden die ersten vegetarischen Vereine in Deutschland gegründet. Als (institutionelles)Vorbild diente England, wo schon einige Jahrzehnte früher vegetarische Vereine entstanden waren. Als Gründer der deutschen Vegetarismusbewegung gilt der frei-religiöse Prediger Eduard Baltzer (1814-1887), der 1867 mit dem 'Verein für naturgemäße Lebensweise' in Nordhausen den ersten deutschen Verein gründete und dessen theoretische Schriften zum Vegetarismus innerhalb der Bewegung weit verbreitet waren. In den folgenden Jahren fanden weitere Vereinsgründungen statt. Gustav Struve (1805-1870), auch eine zentrale Figur der modernen Vegetarismusbewegung, gründete 1868 den 'Stuttgarter Vegetarierverein', der in seiner Folgeorganisation ('Vegetarische Gesellschaft Stuttgart') bis heute weiterbesteht. 1892 schlossen sich Baltzers Nordhausener Verein, der mittlerweile überregional aktiv war, und der Berliner Vegetarierverein zum 'Deutschen Vegetarierbund' zusammen. Eine Auswertung der Bundeszeitschrift 'Vegetarische Warte' ergibt um 1905 ca. 1.500 Mitglieder. Bis 1912 existierten 25 Vegetariervereine mit insgesamt ca. 5.000 Mitgliedern, von denen die meisten Vereinsangehörigen aus der städtisch-bürgerlichen Schicht stammten.[6]
Seit den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg war der organisierte Vegetarismus geprägt von einem Rückgang in der Vereinszugehörigkeit. Schrumpfende Mitgliederzahlen ließen sich aber nicht nur in den Vegetariervereinen beobachten, sondern trafen auf die gesamte Lebensreformbewegung zu. Dennoch bestanden vegetarische Vereine auch nach dem Ende des Krieges in der Weimarer Republik weiter – allerdings stark geschwächt und nur mit geringem gesellschaftlichen Einfluss. Mit Beginn des Nationalsozialismus kam es schließlich zur vollständigen Auflösung der vegetarischen Organisationen und gleichzeitig zum Niedergang der gesamten Lebensreformbewegung.

 

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6. Erscheinungsform des deutschen Vegetarismus um die Jahrhundertwende

Obwohl auch religiöse und moralische Argumente herangezogen wurden, war die vegetarische Bewegung in Deutschland vornehmlich auf gesundheitliche Überlegungen gestützt, was einmal mehr ihre Nähe zur Naturheilkunde zeigt. Die Begründungen der deutschen Vegetarier waren nicht neu, sondern wiederholten schon seit der Antike, spätestens jedoch seit dem 18. Jahrhundert existierende Motive. Das moralische Argument beinhaltete den Respekt vor allen Lebewesen und das sich daraus ergebende Verbot des Tötens von Tieren. Auch die Annahme, dass Tiermord zum Menschenmord führen würde und das Essen von Fleisch Ursache für Aggression sei, findet sich wieder. Das religiöse Argument griff den Grundsatz der Nächstenliebe und der Gewaltlosigkeit sowie den Glauben an Seelenwanderung auf. Das gesundheitlich-hygienische Argument spiegelte die Auffassung wider, dass ein gesunder Körper und ein Einklang von Körper und Seele nur durch eine fleischlose und natürliche Ernährung erreicht werden könne. Durch Fleischverzehr kämen allerdings Giftstoffe in den Körper, welche die Ursache für viele chronische Krankheiten seien. So lehnten viele Vertreter auch andere Reizmittel wie Alkohol, Tabak und Kaffee ab. Auch die Annahme, der Mensch sei vom Aufbau seines Gebisses und seiner Verdauung her nur auf pflanzliche Kost ausgelegt, war weit verbreitet. Darüber hinaus wurde das Verfüttern von Getreide an Tiere, das die Menschen auch direkt verzehren könnten, als unnötige Umwegnahrung aufgefasst. Wie auch in England war in Deutschland der Tierschutz Teil des vegetarischen Diskurses. So war beispielsweise Richard Wagner (1813-1883) ein prominenter Vivisektionsgegner und Befürworter des Vegetarismus. Insgesamt lässt sich innerhalb der deutschen Vegetarismusbewegung ein stetiger Säkularisierungsprozess feststellen.[7]

 

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7. Gleichschaltung

Das Dritte Reich wurde zur Zäsur für den organisierten Vegetarismus. Die Vegetariervereine hatten schon seit dem Ersten Weltkrieg mit einem enormen Bedeutungsverlust und Mitgliederschwund zu kämpfen. Die Gleichschaltung, die auch vor der Lebensreformbewegung keinen Halt machte, leitete schließlich den Zerfall des Netzwerkes ein. Sämtliche Vereine der Lebensreformbewegung wurden in der 1934 gegründeten 'Deutschen Gesellschaft für Lebensreform' gleichgeschaltet. Der 'Deutsche Vegetarierbund' kam dem mit seiner Selbstauflösung 1935 zuvor. Andere Vegetariervereine traten der Sammelorganisation zwar bei, allerdings lässt sich fortan von keiner eigenständigen Bewegung oder gar Organisation mehr sprechen. Vegetarismus wurde nicht als Lebenseinstellung anerkannt, sondern auf eine reine Ernährungsform ohne Reformanspruch reduziert.

 

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8. Vegetarismus im Dritten Reich

Der radikale Bedeutungsverlust der Vegetarismusbewegung ist umso erstaunlicher, wenn man die Deckungsgleichheit mit vielen Elementen der völkischen Ideologie und die Tatsache, dass Adolf Hitler selbst Vegetarier war, bedenkt. Noch 1933 hatten viele Vegetarier gehofft, in Hitler einen prominenten Fürsprecher für ihre Sache gewonnen zu haben, doch schnell wurde klar, dass der organisierte Vegetarismus ebenso vom NS-Terror betroffen war wie andere Gruppen. Hitler sympathisierte wohl sein ganzes Leben lang mit der vegetarischen Ernährung, verzichtete aber wahrscheinlich erst seit 1931 konsequent auf Fleisch. Richard Wagners Schriften zu Vegetarismus und Vivisektion beeinflussten ihn vermutlich stark, und auch der Aspekt der Selbstdisziplin musste ihn angesprochen haben. Hitler rechtfertigte seinen Vegetarismus immer gesundheitlich und sah darin ein Mittel zur Besserung seiner chronischen Magenleiden. Desweiteren teilte er die Überzeugung, es sei unnatürlich für den Menschen Fleisch zu essen. Auch die innere körperliche Reinigung war in seiner Vorstellung von rassischer Hygiene wichtig. Interessanterweise war Hitlers fleischlose Ernährung immer seine individuelle Entscheidung. Manchen Quellen zufolge plante er zwar eine Ernährungsumstellung für das Deutsche Reich nach dem Krieg, aber zunächst gab es keine Hinweise darauf, dass er aktiv die Ernährungsgewohnheiten der deutschen Bevölkerung oder auch nur die seines engeren Kreises aktiv ändern wollte.[8] Einige Auswirkungen, die jedoch nicht nur auf Hitlers persönliche Präferenzen zurückzuführen sind, lassen sich dennoch beobachten. Schon 1933 wurde mit dem Reichstierschutzgesetz ein rigides Vivisektionsverbot verabschiedet und die Durchführung von Tierversuchen erschwert. Daraus ergibt sich ähnlich wie mit dem Reichsnaturschutzgesetz ein ambivalentes Erbe für den Tierschutz nach 1945. Außerdem wurde eine natürlichere, vollwertige Kost propagiert und nicht zuletzt die Herstellung von Vollkornbrot gefördert. Besonders mit der beginnenden Nahrungsmittelknappheit wurde Vegetarismus zu einem präsenteren Thema. Es wurde konstatiert, dass die an Tiere verfütterte Menge an Getreide effizienter als Nahrung für die Bevölkerung genutzt werden könnte. Ab 1939 wurde es Vegetariern erlaubt, ihre Lebensmittelmarken für Fleisch gegen Milchprodukte einzutauschen, wofür sich 83.000 Menschen registrierten.

 

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9. Entwicklung in der Bundesrepublik

Das dunkle Kapitel des Nationalsozialismus war auch für die Vegetarismusbewegung ein tiefer Einschnitt. Die Kontinuität des vegetarischen Gedankens wurde auf Grund seiner negativen Umdeutung im Dritten Reich weitgehend verdrängt und damit auch die lange Tradition seiner Entwicklung. Heute ist die Erinnerung an die Lebensreform und frühere Vegetarismusvereine größtenteils vergessen. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die auf die Diktatur eines Vegetariers zurückgingen, ließen das prominente Argument, Tiermord führe zu Menschenmord und die daraus hervorgehende Annahme, Vegetarier seien grundsätzlich friedlichere Menschen, komplett aus der vegetarischen Literatur nach 1945 verschwinden.
Auch die in Vereinen organisierten Vegetarier sind weitaus weniger zahlreich als zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einzig die Reformhäuser und die Reformwarenwirtschaft konnten sich über die Zeit des Nationalsozialismus retten. Diese waren seit Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, um die steigende Nachfrage von alternativen Heilpräparaten und Lebensmitteln zu decken, die durch die Lebensreformbewegungen gewachsen war. Florentine Fritzen argumentiert, dass spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg "der Begriff der Lebensreform immer mehr zum Synonym für die Reformwarenwirtschaft" wurde.[9]
Die Akzeptanz alternativer Ernährungskonzepte ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Neue Erkenntnisse aus der Ernährungswissenschaft unterstützen die These, dass eine ausgewogene, fleischlose Ernährung gesundheitliche Vorteile hat. Auch ein gesteigertes Gesundheitsbewusstsein und eine Trend zu alternativen Heilmethoden spielen eine Rolle. Trotzdem sind für ca. 80 Prozent der Vegetarier immer noch ethisch-moralische Gründe ausschlaggebend für ihre Entscheidung zum Fleischverzicht. Desweiteren stellen neuere Phänomene wie Massentierhaltung, Umweltbelastung durch Fleischkonsum, chemische Lebensmittelindustrie, Welthunger, Lebensmittelskandale und unfaire Produktionsbedingungen weitere Herausforderungen für die vegetarische Ideologie dar.

 

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10. Ökonomische und ökologische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Der Vegetarismus nach 1945 entwickelt neue Themenkomplexe und Problembereiche, die auch auf die wiederrum veränderten Lebensumstände und Konsumgewohnheiten zurückzuführen sind. So werden ökonomische und ökologische Belastungen – besonders in einem globalen Zusammenhang – immer wichtiger.
Die ökonomische Komponente war jedoch schon in der Antike vorhanden. Seit jeher ist Fleisch ein Luxusprodukt und Zeichen des persönlichen Wohlstands. Schon im alten Rom hat sich der Großteil der einfachen Bevölkerung vegetarisch ernährt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Vegetarismusbewegung um 1900 nicht in der Arbeiterschaft verortet war, für die Fleisch erst kürzlich zu einem erschwinglichen Produkt geworden war. Neu ist aber der Zusammenhang mit Ländern des globalen Südens, in welchen mittlerweile ein Großteil der Nahrungsmittel erzeugt wird. Für die Herstellung von einem Kilo Fleisch werden ca. 5-7 Kilo Getreide benötigt. Außerdem wird mehr Fläche für die Tierzucht benötigt als für eine vergleichbare Menge an Getreide. Daher wird die Mehrheit der weltweiten Anbauflächen zur Fleischerzeugung verwendet. Eine Verringerung des Fleischkonsums und eine stärkere Nutzung der vorhandenen Flächen für den Getreideanbau würden die Selbstversorgung ärmerer Weltregionen begünstigen und ein effektives Mittel gegen das Welthungerproblem darstellen – ein Ansatz, der auch vom UN-Welternährungsprogramm verfolgt wird.
Dramatisch sind auch die langfristigen ökologischen Auswirkungen der Fleischproduktion. Es wird mehr Fläche für die Tierzucht benötigt als für den Anbau von Getreide. Um diese Flächen bereitzustellen, werden regelmäßig große Teile des Regenwaldes abgeholzt. Hinzu kommt die Umweltbelastung durch den Transport und der Ressourcenverbrauch. Die Produktion tierischer Lebensmittel ist verantwortlich für 80 Prozent der Emissionen der Landwirtschaft. In Deutschland ist der Fleischkonsum nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls erheblich gestiegen und damit einhergehend die Massentierhaltung. Hieraus resultieren ökologische Probleme wie Ackerflächenverbrauch, Belastung des Grundwassers durch Gülle und Pestizide, Förderung des Treibhauseffekts, Rückstände von Antibiotika und anderen Masthilfen sowie der Verlust der Artenvielfalt durch Hochleistungsrassen.[10]
Die Jahrtausende alte Geschichte des Vegetarismus und die über lange Zeit konstanten Argumente wurden seit der Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend vergessen – nicht zuletzt wegen der Kontinuität des Begriffs im Dritten Reich. Der heutige Vegetarismus steht vor neuen Aufgaben und es scheint, dass die Sensibilität dafür wächst. Darauf lassen zumindest die steigenden Zahlen der Vegetarier in Deutschland schließen.

 

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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Veronika Schäfer

 

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Empfohlene Zitierweise: Veronika Schäfer, Erinnerungsort "Vegetarismus", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/lebensweisen/60-vegetarismus.