Kapitelübersicht - Lebensweisen - Der Biergarten

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Der Biergarten    

Wege der Erinnerung

  1. Vorgeschichte
  2. Bier im Keller
  3. Biergärten ohne Speisen
  4. München wird Großstadt
  5. Biergärten, Freischankflächen, Wirtsgärten...
  6. Im Biergarten sind alle gleich
  7. Was es sonst noch zu beachten gilt...
  8. Die Biergartenrevolution
  9. 200 Jahre Biergarten
  10. The Beer Garden

 

Verwandte Themen

Gibt es nicht. Der bayerische Biergarten ist qua Definition unvergleichlich.

 

Literatur

Volker D. Laturell, Volkskultur in München. Aufsätze zu Brauchtum, Musikalische Volkskultur, Volkstanz, Trachten und Volkstheater in einer Millionenstadt. München 1997.

 

Fußnoten

[1] Ina Ragnhild Langenfeld, Matthias Fieder, Reinheitsgebote – Von der Augsburger Bierschankordnung 1156 zum EU-Bier, in: Matthias Fieder (Hg.), Flüssiges Brot. Bier, Brauereien und Wirtshäuser in Schwaben, Oberschönenfeld 2010, S. 76-81.


[2] Volker D. Laturell, Volkskultur in München. Aufsätze zu Brauchtum, Musikalische Volkskultur, Volkstanz, Trachten und Volkstheater in einer Millionenstadt, München 1997, S. 56.

 
[3] Paul Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse Bd. 1, Stuttgart 1912, S. 189.

 

[4] Herbert Grziwotz, Roland Rudolf Saller, Bayerisches Nahbarrecht, 2. Aufl. München 2010, S. 91.

 

[5] Auch der Weißwurstäquator ist ein Erinnerungsort: Friedrich Prinz, Der Weißwurstäquator, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, S. 471-483.

 

[6] http://www.bohemianhall.com /en/Index.php.

 

[7] http://www.pattayabeergarden.com.

 

[8] http://www.alohatable.com/ beergarden/.

 

 

Bildnachweis

Münchener Biergarten. Gemälde von Max Liebermann aus dem Jahr 1883.

Wenn sich Menschen unter Kastanienbäumen versammeln, um ein Getränk zu konsumieren, das seit einem halben Jahrtausend ohne künstliche Zusätze produziert wird – dann sagt das einiges über ihr Verhältnis zur Natur. Der Biergarten ist als "beer garden" längst globalisiert – und zugleich ein Stück Bayern, mit peniblen amtlichen Regeln und gesellschaftlichen Konventionen. Als eine Münchner Einrichtung fühlt sich das Rachel Carson Center selbstverständlich dem Original verpflichtet und straft im Folgenden den außerbayerischen Biergarten mit systematischer und vollkommen gerechtfertigter Missachtung. Und wenn Sie, sehr geehrter Leser, dies für einen Ausdruck bajuwarischer Überheblichkeit halten, dann haben Sie damit voll und ganz Recht.

 

 

1. Vorgeschichte

Der Ruhm des Biergartens verbindet sich aufs Engste mit dem des bayerischen Biers, und dieser wiederum hängt wesentlich am berühmten bayerischen Reinheitsgebot. Seit dem Hochmittelalter hatten bayerische Städte das Bierbrauen mit Vorschriften belegt. Zum Mythos wurde jedoch das für ganz Bayern geltende Reinheitsgebot, das die bayerischen Regenten Wilhelm IV. und Ludwig X. 1516 in Ingolstadt erließen. Seither durfte Bier nur mit Wasser, Gerstenmalz und Hopfen gebraut werden; die Wirkung der Hefe als Gärmittel war noch unbekannt und wurde deshalb nicht erwähnt. Das Reinheitsgebot entstand mithin in einem Kontext obrigkeitlicher Kontrolle, die sich auch auf andere Gegenstände wie Bierpreise, Brauzeiten und Maßeinheiten erstreckte.[1] Von daher verwundert es wenig, dass die Obrigkeit auch beim Biergarten ihre Finger im Spiel hatte. Es ging um den Absatz des begehrten Getränks: Sollten Brauer ihr Bier auch selbst verkaufen dürfen, oder war das Privileg der Wirte? Vor 200 Jahren traf der bayerische König in dieser Frage eine folgenreiche Entscheidung.

 

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2. Bier im Keller

Zu den Beschränkungen der Münchener Brauwirtschaft in der Frühen Neuzeit gehörte auch das aus Gründen des Brandschutzes erlassene Verbot, zwischen Georgi (23. April) und Michaeli (29. September) Bier zu brauen. Um trotzdem in den Sommermonaten Bier ausschenken zu können, wurden seit dem späten 18. Jahrhundert große Bierkeller gebaut, um für die warme Jahrzeit das sogenannte Sommer- oder Märzenbier einzulagern. Aufgrund des hohen Grundwasserspiegels wurden solche Keller vor allem außerhalb der Stadtmauern an den Abhängen der Isar gebaut. Da es noch keine Kältemaschinen gab und auch die Verwendung von Natureis zur Kühlung erst im Braujahr 1832/33 begann, pflanzten die Brauereien über diesen Kellern Bäume, die breit ausluden und Schatten spendeten – wie zum Beispiel die Kastanie.

 

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3. Biergärten ohne Speisen

Es kam, wie es kommen musste. An warmen Sommertagen haben schattige Plätze für Ausflügler eine gewisse Anziehungskraft. Und Ausflügler haben Durst. Warum also nicht das Bier gleich an Ort und Stelle verkaufen? Was findige Brauer als willkommenen Profit verbuchten, rief zwangsläufig den Protest der Wirte auf den Plan, zumal erlassene Verbote regelmäßig ignoriert wurden. Erst die allerhöchste Verordnung, die König Maximilian I. Joseph am 4. Januar 1812 erließ, machte aus dem Gewohnheitsrecht ein staatliches Privileg. Fortan war es des den Bierbrauern gestattet, "auf ihren eigenen Märzenbierkellern in den Monaten Juni, Juli, August und September selbstgebrautes Märzenbier in Minute zu verschleißen und ihre Gäste dortselbst mit Bier und Brot zu bedienen."[2] Um den Gastwirten entgegen zu kommen, wurde den Brauern jedoch eine folgenreiche Beschränkung auferlegt: Der Verkauf von Speisen und anderen Getränken blieb untersagt. Daraus entstand eine Gewohnheit, die Zugereiste immer wieder erstaunt zur Kenntnis nehmen. Gäste packen im Biergarten ihre Brotzeit aus – und das Personal schaut ungerührt zu.

 

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4. München wird Großstadt

Vielleicht wäre der Biergarten nicht mehr als eine regionale Besonderheit geblieben, wenn sich München im 19. Jahrhundert nicht zu einer der wichtigsten Metropolen des Deutschen Reiches entwickelt hätte. Seit 1806 war München Hauptstadt eines Königreiches, das bis jenseits des Mains reichte, und mit dem Wachstum der Stadt wuchsen auch die Biergärten und das überregionale Echo. Seit den 1830er Jahren berichtete die deutsche Presse über das Münchener Phänomen und die Charakterköpfe, die die Biergärten bevölkerten. Aus improvisierten Schankstätten entwickelten sich wahre Bierpaläste mit prächtigen Räumlichkeiten für Veranstaltungen aller Art.

 

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5. Biergärten, Freischankflächen, Wirtsgärten...

Solche Bierpaläste konnten nicht nur vom Bierausschank leben, und so wurde der Verkauf von Speisen legalisiert. Dennoch gehört das Recht, eine eigene Brotzeit mitzubringen, bis heute zu den Wesensmerkmalen des bayerischen Biergartens. Außerdem befindet sich ein Biergarten auf Privatgrund – im Unterschied zu Freischankflächen, die sich auf öffentlichem Grund befinden. Zudem ist der Biergarten zu unterscheiden von den Wirtsgärten, die auch in München inzwischen sehr viel zahlreicher sind. In Wirtsgärten darf man nämlich nur jene Speisen konsumieren, die das angeschlossene Wirtshaus für seine Gäste zubereitet. Und da wir in Deutschland sind, hat der Staat all dies penibel geregelt – unter anderem durch die Bayerische Biergartenverordnung von 1999.

 

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6. Im Biergarten sind alle gleich

Es gehört zum Nimbus des bayerischen Biergarten: Hier sitzt jeder, vom armen Schlucker bis zum Top-Manager. Die Staatsregierung hielt es gar für erforderlich, dies in der Begründung der Bayerischen Biergartenverordnung festzuhalten: "Biergärten erfüllen wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen." Mehr als ein frommer Wunsch? Der Gang in den Biergarten kommt zumeist billiger zu stehen als der Besuch in einem Restaurant – und zu den ungeschriebenen Regeln des Biergartens gehört auch, dass man sich zu Wildfremden an einen Tisch setzen darf. (Es wird allerdings, sehr geehrter Norddeutscher, gern gesehen, wenn Sie vorher fragen, ob der Platz noch frei ist.)
Gerne zitiert man bei diesem Thema in München Paul Heyse: "Die demokratisierende Macht des Bieres hatte doch eine Annäherung bewirkt. Der geringste Arbeiter war sich bewußt, daß der hochgeborene Fürst und Graf keinen besseren Trunk sich verschaffen konnte als er; die Gleichheit vor dem Nationalgetränk milderte den Druck der sozialen Gegensätze. Und wenn im Frühling noch der Bock dazu kam, konnte man in manchem Wirtsgarten eine so gemischte Gesellschaft zwanglos beisammen finden, wie sie in Berlin nirgends anzutreffen war."[3] Und, was soll man sagen: Der Mann war immerhin Nobelpreisträger! Außerdem gab es beim Biergarten die ungeplanten Nebeneffekte, denn so ganz en passant erleichterte der Biergarten die Assimilation der Juden. Diese konnten die gemäß den jüdischen Vorschriften zubereiteten Speisen schließlich selbst mitbringen. Und Bier ist immer koscher.

 

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7. Was es sonst noch zu beachten gilt...

Sie merken schon: Der scheinbar so libertäre Biergarten ist tatsächlich ein Ort, über den sich im Laufe der Jahre ein dichtes Netz von formellen und informellen Regeln ausgebreitet hat. Aber wenn Sie ihr Essen im Weidenkorb mitbringen, eine karierte Stofftischdecke ausbreiten und vielleicht noch einen Radi vom Radieschen zu unterscheiden wissen, sind Sie schon mal auf einem guten Wege. Und wenn Sie wissen wollen, was es mit diesem Obatzdn auf sich hat, fragen Sie einfach Ihren Sitznachbarn.

 

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8. Die Biergartenrevolution

So hätte alles gemütlich weitergehen können bis ans Ende der Tage, wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nicht 1995 ein folgenträchtiges Urteil gefällt hätte. Es ging um den Schutz der Nachbarn vor den Geräuschen, die ein Biergarten üblicherweise so mit sich bringt. Auch der Lärmschutz gehörte zu jenen Themen die seit den ersten Umweltprogrammen in den siebziger Jahren ernster genommen wurden. Lärm entstand jedoch nicht nur an Autobahnen, sondern eben auch dort, wo Menschen gesellig zusammen sitzen. Deshalb verfügten die Richter für Biergärten eine Sperrstunde um halb zehn und provozierten damit einen derartigen Aufschrei des biertrinkenden Volkes, das manche von einer "Biergartenrevolution" zu reden begannen. Etwa 25 000 Menschen demonstrierten im Mai 1995 auf dem Münchener Marienplatz, und die Staatsregierung schlug sich voller Dankbarkeit auf deren Seite. Seit der erwähnten Biergartenverordnung von 1999 herrscht wieder Frieden unter den Kastanien. Diese schuf für Biergärten eine Art Sonderrecht, mit dem sie gegenüber Gaststätten privilegiert werden. Anders als diese müssen Biergärten erst um 23 Uhr schließen. Außerdem enthält die Biergartenverordnung generöse Immissionsschutzwerte, welche "die Zumutbarkeitsschwelle für die Anwohner anheben und zugunsten des Biergartens einen Bonus von 5 dB(A) gewähren."[4]

 

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9. 200 Jahre Biergarten

Das vorerst letzte Kapitel sind die Feierlichkeiten zum 200-jährigen Jubiläum der Verordnung von 1812. Es ist, wenn man ehrlich ist, der klassische Fall eines fingierten Jubiläums. Schon vor dem königlichen Erlass gab es Biergärten, und wann der erste Bayer unter einer Kastanie ein Bier trank, wird sich ohnehin nie klären lassen. Es hätte allerdings schon eines in jeder Hinsicht nüchternen Tourismusmanagers bedurft, um eine solche Gelegenheit verstreichen zu lassen. 200 Jahre Biergärten in München und Oberbayern! Ach ja, hier noch die dazugehörige Website: http://www.200-jahre-biergarten.de.

 

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10. The Beer Garden

Soweit die bewegte Geschichte des original bayerischen Biergartens. Was aber macht der Chronist aus jenen Biergärten, die sich jenseits des Weißwurstäquators[5] befinden und längst auch im Ausland bekannt und beliebt sind? Der "beer garden" erzielt bei Google ein paar Millionen Treffer, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Da gibt es die "Bohemian Hall & Beer Garden" in New York ("Serving the Community for over 101 Years")[6], den "Pattaya Beer Garden" in Thailand ("single ladies welcome")[7] und den "Aloha Table Hawaiian Beer Garden", der sich allerdings in Tokyo befindet[8] – vermutlich von wegen "kein Bier auf Hawaii". Da seufzt der Umwelthistoriker, zumal der Münchnerische. Wie soll man da den Überblick behalten, wenn man allein in der eigenen Heimatstadt mehr als 100 Biergärten zur Auswahl hat? Wir werden darüber nachdenken. Und raten Sie mal, wo!

 

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{accordion}Kommentare::

In dieser Rubrik veröffentlichen wir Hinweise, die uns Besucher dieser Website freundlicherweise geschickt haben. Wir verzichten in der Regel auf eine Kommentierung, behalten uns jedoch Kürzungen vor.


Richard Staley von der University of Wisconsin-Madison schreibt uns:

I like the expression "Braujahr 1832/33." Seeing you write about the beer garden as an ecological memory-site (I'm not sure how to translate that) makes me think that someone should write about the psychological importance of the sausage in German life. I first started recognizing that in Berlin, and statements like "Jetzt geht es um die Wurst" and "Das ist mir total Wurst" show that you can encompass the highs and lows of life through sausages (which are after all the only things with two ends - and that's a saying that doesn't have an English equivalent). But more recently I've seen two different lectures/documentaries on BR Alpha which I watched because of their reference to psychology. One was on AI and robotics, which culminated with an LMU professor showing video of the robot his research team had built - with the principal demonstration being one of the machines ability to cook a sausage for breakfast. The second was on Jungian psychology and a discussion of the difference between conscious fields of associations and others. And the last concept that it explored (after "Weiss" and "Zug") was "Wurst." So what is it with German psychology and sausages?



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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Frank Uekötter

 

Online seit 2012

 

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Empfohlene Zitierweise: Frank Uekötter, Erinnerungsort "Der Biergarten", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/lebensweisen/122-der-biergarten.