Die autofreien Sonntage
Kapitelübersicht - Aufbrüche - Die autofreien Sonntage
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenDas Tempolimit, Grenzen des Wachstums, Die Autobahn, Das Umweltprogramm
LiteraturDietmar Klenke, Freier Stau für Freie Bürger. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949-1994. Darmstadt 1995.
Jens Hohensee, Der Erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. Stuttgart 1996.
Fußnoten[1] Nahost-Öl: Die Krise dauert fünfzehn Jahre, in: Der Spiegel 43 (1973), S. 25-27, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41843107.html, aufgerufen am 21.10.2011 (09:10).
[4] Jens Hohensee, Der Erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. Stuttgart 1996, S. 149. [5] http://www.upi-institut.de/upi37.htm.
[6] http://www.happy-mosel.com/de/.
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Die Ölkrise des Jahres 1973 ist bei vielen Menschen mit Bildern von leergefegten Autobahnen verbunden. Die Bundesregierung reagierte damit auf zwei Ereignisse von globaler Bedeutung: Die erdölexportierenden Golfstaaten hatten nach dem Jom-Kippur-Krieg ein Ölembargo gegen einige westliche Länder erlassen, zugleich hatte die Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) kräftig die Rohölpreise erhöht. Am 9. November 1973 führte die Regierung Willy Brandt befristete Energiesparmaßnahmen in Form des Energiesicherungsgesetzes ein. Angewandt wurde das Gesetz an den vier Sonntagen vom 25. November bis zum 16. Dezember 1973. Außerdem sollte ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen Benzineinsparungen bewirken. Obwohl während der gesamten Ölpreiskrise kein realer Benzinmangel bestand, nahmen die westlichen Industrienationen durch die imaginierte Knappheit der Ressource Rohöl zum ersten Mal potentielle Grenzen des Wachstums wahr. Dass die Einsparmaßnahmen der Regierung jedoch ökonomisch und nicht ökologisch begründet waren, zeigt die Abschaffung des Energiesicherungsgesetzes nach dem Ende der ersten Ölpreiskrise.
1. VorgeschichteDas Machtgefüge zwischen der OPEC und den westlichen Ölkonzernen hatte sich bis zum Jahr 1970 deutlich zugunsten des OPEC verschoben. Dennoch wurde die erdölabhängige Bundesrepublik von der Bekanntgabe einer Förderungsdrosselung der arabischen Erdölexporte um fünf Prozent pro Monat im Zuge des Jom-Kippur Krieges 1973 überrascht und erheblich verunsichert. Trotz Dementis der Mineralölindustrie verängstigen Pressewarnungen vor Stromausfällen und Heizölknappheit im kommenden Winter viele Bürger. Verschlimmert wurde diese Unsicherheit durch eine schlecht koordinierte Informationspolitik der Regierung: Während Bundeswirtschaftsminister Hans Friedrichs versuchte, Ängste abzuwiegeln, rief Bundeskanzler Brandt die Bevölkerung zum Öl-Sparen auf. Dennoch führte die Ölkrise, die eher eine durch Spekulation angetriebene Ölpreiskrise war, in Westdeutschland nicht zu einer Massenpanik. Bei der Bewältigung der Krise bewiesen die Bundesbürger vielmehr ein erhebliches Maß Kreativität und Solidarität.
2. Und sonntags wieder laufen
Am 25. November 1973 – dem ersten motorfahrzeugfreien Sonntag – zogen die leeren Autobahnen viele Schaulustige an. Die Menschen nutzten die seltene Gelegenheit für einen Spaziergang. So auch die Gemeinde Künzell bei Fulda, deren 12.000 Einwohner zu einem "Ölsparwandertag" aufgerufen wurden, wodurch das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden sollte. Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allenbach ergab, dass die meisten Befragten den autofreien Sonntag mit ausgedehnten Spaziergängen zugebracht und in positiver Erinnerung hatten. In einigen Gemeinden Deutschlands entwickelte sich aus diesen Erfahrungen eine Tradition der Fahrzeugfreiheit: Einmal pro Jahr werden bestimmte Straßen autofrei gehalten. Solch eine Traditionalisierung zeugt vom Eingang der autofreien Sonntage in das kommunikative Gedächtnis der Deutschen.
3. Ökonomie versus Ökologie
Im Zuge der Spritsparmaßnahmen im Winter 1973 schienen sich die Gegensätze zwischen Ökonomie und Ökologie zeitweilig aufgelöst zu haben. Verstärkt wurde das Gefühl der Zweckmäßigkeit von Einsparungen durch den Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der im Vorjahr erschienen war. Die Warnungen vor einem exponentiellen Wachstum des Ressourcenverbrauchs schienen gewissermaßen durch die Tagespolitik ratifiziert.
4. Der Spiegel der Presse
Vergleicht man Schlagzeilen einiger deutscher Zeitschriften während der Krise, wird deutlich, dass im Herbst 1973 Meldungen wie "Nahost-Öl: Die Krise dauert 15 Jahre"[1] oder "Ein Zeitalter des Mangels"[2] die Dramatik der Lage stark übertrieben. Während der Krise setzte die Presse zudem auf fragwürdige Stereotype von geldgierigen Ölscheichs, die dem Westen den Ölhahn zudrehten, um mehr Kontrolle über westliche Ölkonzerne zu erlangen. Auch die Ratgeberliteratur zu Energiesparthemen weitete sich zu dieser Zeit stark aus.
5. Umweltpolitische Kehrtwende
Obwohl vornehmlich ökonomische Überlegungen hinter den Maßnahmen des Herbsts 1973 standen, verlieh auch der Umweltgedanke den Energiesparmaßnahmen Antrieb. Die Wiederabschaffung des Tempolimits auf den deutschen Autobahnen im folgenden Frühjahr zeigt jedoch, dass der Umweltgedanke und ein freiwilliger Konsumverzicht außerhalb von Krisenzeiten nur wenige Anhänger hatte. Die Umweltpolitik Hans-Dietrich Genschers war aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz zu stark auf Verschmutzungsprobleme fixiert, als dass in der Krise die Erweiterung zu einer gesamtgesellschaftlichen Politik möglich gewesen wäre. Die Umweltbewegungen der frühen 1970er waren noch zu heterogen und einflusslos, um sich „gegen die breitgefächerte Kraftfahrt-Lobby"[3] und deren Forderung nach "freier Fahrt für freie Bürger" durchzusetzen.
6. Die Aufhebung der Maßnahmen
Schätzungen zufolge hat das Sonntagsfahrverbot 7 bis 12 Prozent Benzinersparnis bewirkt.[4] Da man sich über das weitere Verhalten der Ölförderstaaten unsicher war, erwog man noch eine Ersetzung des Sonntagsfahrverbotes durch ein Nummernsystem, bei dem abwechselnd gerade und ungerade Kennzeichen sonntags die Fahrerlaubnis bekommen sollten. Am 25. Dezember meldete Kuwait dann das Ende der Produktionskürzungen. Damit war auch die Krise beendet. Bereits am 8. Januar 1974 sprach sich Willy Brandt gegen weitere Fahrverbote aus. Obwohl es durchaus Argumente wie hohe Unfallzahlen für die Beibehaltung des Tempolimits auf Autobahnen gab und das europäische Ausland im Zuge der Ölkrise eingeführte Geschwindigkeitsbegrenzungen beibehielt, schaffte Deutschland diese als einziges Land in Europa wieder ab. Für bundesdeutsche Automobilisten wirkten die autofreien Sonntage deshalb im Rückblick wie ein schlechter Traum, der gottlob bald vorüber war.
7. Der Zweite Ölpreisschock
Die Ölkrise von 1973 blieb kein singuläres Ereignis. 1979 stürzte der Zweite Ölpreisschock die westlichen Ökonomien in eine tiefe Wirtschaftskrise, die in der Bundesrepublik das Ende der sozialliberalen Koalition mit heraufbeschwor. Zu einer Neuauflage der autofreien Sonntage kam es jedoch nicht, und auch an die ungebremste Fahrt auf den Autobahnen traute man sich nicht heran: Beides hätte zu sehr nach Panik gerochen.
8. Von der Notmaßnahme zur Kampagne
In den achtziger Jahren wurde der autofreie Sonntag von einer improvisierten Sofortmaßnahme zu einem Kampagneninstrument, symbolisierte er doch ein Kernmotiv der ökologischen Bewegung: Konsumverzicht konnte zu einem Gewinn an Lebensqualität führen. Es ging nicht mehr nur um Ressourcenschonung, sondern um ein breites Spektrum von Argumenten gegen den motorisierten Individualverkehr: Unfallgefahren, Verschandelung der Landschaft, Verschmutzung und Energieverschwendung. Als Instrument ökologischer Aufklärung blieben autofreie Sonntage freilich stets ambivalent, lenkten sie doch in der Tendenz davon ab, dass es im Kern auf Lösungen für den alltäglichen Mobilitätsbedarf ankam.
9. Autofreie Erlebnistage
Nach und nach erkannten findige Tourismusmanager, dass in solchen Initiativen ein Event-Potential steckte. Die autofreien Sonntage wandelten sich damit zu "autofreien Erlebnistagen"; nach einer Zusammenstellung des Umwelt- und Prognose-Instituts gab es 2011 bundesweit 77 derartige Veranstaltungen.[5] Dazu zählt beispielsweise der Raderlebnistag "Happy Mosel", den der Aufsichtsratsvorsitzende der Mosellandtouristik kürzlich für seinen "hohen Imageeffekt" lobte.[6] Vielen Menschen macht es offenkundig Spaß, auf einer stillgelegten Bundesstraße zu radeln oder zu wandern – ohne großen intellektuellen Überbau. Offen bleibt nur, ob man das eigentlich bedauern muss.
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