27. September 2013

Wahlkämpfe sind gewöhnlich Orte der Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. Aber in der Schlussphase des jüngsten Bundestagswahlkampfs kam plötzlich die Geschichte ins Spiel: die Grünen und die Pädophilen, und mittendrin Jürgen Trittin. Was sagt man da als Umwelthistoriker?

Zunächst mal: Wir sind von dem Thema nicht wirklich überrascht. Das kann ich sagen, denn die Bezüge zu den Pädophilen habe ich schon in meinem "Ende der Gewissheiten" erwähnt, auf Seite 254, nebst weiterhin korrekter Einordnung: In ihren ersten Jahren waren die Grünen eine Chaos-Truppe, die für alles offen waren, was gegen den gesellschaftlichen Mainstream ging. Will heißen: Die wenigsten Grünen waren tatsächlich für straffreie Sexualität mit Kindern, aber es fiel schwer, sie auszuschließen. Denn ausschließen, das war der Denkmodus der anderen Parteien.

Wenn man das weiß, wirkt die Aufregung in der letzten Wahlkampfwoche merkwürdig ziellos. Niemand hielt Trittin für einen Pädophilen. Niemand hat die Grünen entsprechender Tendenzen in der Gegenwart bezichtigt. Jeder weiß, dass die Grünen inzwischen innerlich gefestigt sind und Versuche der Vereinnahmung, wie sie in den achtziger Jahren unternommen wurden, schon im Ansatz scheitern würden. Trittin hat noch nicht einmal versucht, dem Thema auszuweichen. Nur wollte er in der Schlussphase des Wahlkampfes auch noch über andere Dinge reden. Schon das war aber irgendwie nicht okay.

Dabei kam es nur deshalb zur Enthüllung, weil die Grünen souverän genug waren, einen unabhängigen Wissenschaftler mit einer Untersuchung der Verbindung zu beauftragen. So souverän sind nicht alle - um es mal freundlich zu formulieren. Man stelle sich nur einmal vor, die CSU würde sich in ähnlicher Weise um ihre Leichen im Keller kümmern! In der jüngst erschienen Kohl-Biographie von Hans-Peter Schwarz kann man nachlesen, wie Strauß noch in den achtziger Jahren nach einer deutschen Atombombe gierte. Und mit dem Apartheid-Regime in Südafrika verstand er sich anscheinend auch nicht ganz schlecht. Und wollen wir wirklich Politiker, die nie, nie nie einen Fehler gemacht haben? Den geraden, makellosen Weg haben wohl nur jene Politiker vorzuweisen, die schon in der Mittelstufe strategisch ihre Karriere bei der Jungen Union planten.

Vielleicht ist es am Ende eine Sache des Timings: Das Thema taugt einfach nicht für Wahlkampfzeiten - und erst recht nicht für die Schlussphase. Der Blick zurück braucht eine gewisse Bedächtigkeit, eine Nachdenklichkeit, die nicht auf die nächste Schlagzeile schielt. Fragen nach der Geschichte tangieren die Identität, und Identitäten entstehen im Diskurs, im Laufe der Zeit. Für das Timing sind jedoch eindeutig die Forscher verantwortlich. Sie hätten mit ihren Ergebnissen warten können bis nach der Wahl, hätten ein Forum und Format wählen können, in dem man tatsächlich nachdenken kann. Auch wenn die Welle der öffentlichen Erregung dann vielleicht weniger groß gewesen wäre.

Tatsächlich ist es nicht ohne Reiz, die Identität der Grünen einmal im Spiegel der achtziger Jahre zu schärfen. Gewiss, die prinzipielle Offenheit gegenüber allem und jedem war geradezu eine Einladung zur Instrumentalisierung durch Randgruppen. Das Chaos der Anfangsjahre zerrte ungemein an den Nerven - man lese nur einmal die kürzlich edierten Fraktionsprotokolle der ersten Grünen-Bundestagsfraktion. Andererseits bestand in der Offenheit auch ein ungeheurer Charme. Die frühen Grünen hatten noch nicht auf alle Fragen eine Antwort. Sie waren gedanklich offen, experimentierfreudig. Alles Attribute, über die es sich auch im 21. Jahrhundert nachzudenken lohnt.

So wie es jetzt gelaufen ist, befördert die Popularisierung historischer Erkenntnisse nur jene diffuse Angst vor der Geschichte, die so viele Teile der Umweltbewegung befallen hat. Es ist noch nicht einmal intellektuell reizvoll, denn gute Forscher können durchaus mehr, als Leichen aus dem Schrank zerren. Dem Projekt einer historisch reflektierten Umweltdebatte haben die Göttinger Kollegen jedenfalls mit ihrem Vorpreschen zur Unzeit einen Bärendienst erwiesen.